Projekt: "Körperbilder"

Postkarten von tätowierten Menschen, Schaustellerinnen und Schaustellern

Abb.1: Postkarte: Tätowierte von Christian Warlich

von Nadine Kulbe 

 

Die wissenschaftlichen Interessen des Volkskundlers Adolf Spamer waren breit gestreut und richteten sich auf viele Formen der Populärkultur. Seine Sammlung von Bildpostkarten mit Tätowierten und Schausteller*innen nimmt hier eine ganz besondere Stellung ein. Sie führt nicht nur den Umgang mit körperlichen Besonderheiten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor Augen, sondern verweist auf die Notwendigkeit eines kritischen und kontextualisierenden Umgangs mit Bildquellen.

 

Zur umfangreichen Bildsammlung des Volkskundlers Adolf Spamer (1883­­–1953) gehört ein kleiner Bestand von etwas mehr als fünfzig Bildpostkarten, die Schausteller*innen mit besonderen Körpermerkmalen sowie tätowierte Frauen und Männer zeigen. Die Bildpostkarten gelangten wohl zwischen 1907 und 1935 in den Besitz des Wissenschaftlers: Die meisten hat er selbst gekauft, einige von Kollegen erhalten. Die Sammlung steht in Zusammenhang mit Spamers unerschöpflichem Interesse an der Populärkultur nicht nur urban-bürgerlicher, sondern auch ruraler und proletarischer Gesellschaften. 

Die Postkarten sind „Körperbilder“, denn sie sind einerseits Bilder von menschlichen Körpern, andererseits zeigen sie auf den Körper tätowierte Bilder. „Körperbilder waren in der Geschichte […] nie nur Darstellungen des biologischen Körpers. Im Bild des Körpers wird immer auch das Bild des Menschen, das Menschsein als Idee zum Ausdruck gebracht.“ (Leimgruber 2005, S. 70) Die Sammlung lädt ein, über Forschungsinteressen und den wissenschaftlichen Gebrauch mit solchen Bildern zu reflektieren. An ihr zeigen sich ideologisch, politisch oder wissenschaftlich konstruierte Zugehörigkeiten und Ausgrenzungen durch Agenda Setting bzw. durch ideologische und soziale Abwertungen.

 

Tätowierer, Tätowierte und Schausteller*innen

1933 veröffentlichte Adolf Spamer in der „Niederdeutschen Zeitschrift für Volkskunde“ einen gut einhundertseitigen Artikel über die „Tätowierung in den deutschen Hafenstädten“. Hierin ging es einerseits um die Entwicklung von Tattoomotiven basierend auf deren nationaler wie internationaler Verbreitung, um Motivpräferenzen von Kundinnen und Kunden, vor allem aber um die Tätowierer als Gewerbetreibende. Der lokale Fokus der Studie war dem Ende der 1920er und Anfang der 30er Jahre sich abzeichnenden Niedergang von Tätowierstuben geschuldet. Außer in den Küstenstädten gab es so gut wie keine hauptberuflichen und sesshaften Tätowierer mehr. Da Spamers Forschungen methodisch vor allem auf Befragungen der Akteur*innen basierten, fand er nur mehr im Norden Gewährspersonen, die ihn mit Informationen und Material unterstützten. In längerem Austausch stand er mit dem Hamburger „König der Tätowierer“ Christian Warlich (1891–1964); Gespräche führte er mit Karl Finke (1866–1935) und Wilhelm E. Blumberg (1877–?). Von Finke kaufte Spamer ein Vorlagealbum, das inzwischen zu den ganz wenigen noch erhaltenen Motivmusterbüchern aus dem frühen 20. Jahrhundert zählt (Finke 2017). 

In seinem Artikel zeigt Spamer, wie eng das Tätowier- und das Schaustellergewerbe verbunden waren. Einerseits traten tätowierte Frauen und Männer auf Jahrmärkten auf, andererseits waren Tätowierer selbst als Schausteller tätig gewesen: Karl Finke zum Beispiel hatte sich, bevor er professioneller Tätowierer wurde, als Ringkämpfer verdingt. 

Das Besondere an Spamers Arbeit ist sein Fokus auf tattooproduzierende Akteure und die von ihnen gestochenen Bilder. Dieser Blick unterscheidet sie von den meisten früheren und nachfolgenden Studien, die sich auf tätowierte Personen konzentrierten und deren soziale Zugehörigkeit sowie einen als krankhaft bzw. als abweichend klassifizierten Charakter zum Grund für eine Tätowierneigung erklärten.

 

Normalität und Devianz, Gesellschaft und Individuum

Abb. 2: "Postkarte: "Raja, die Germania vom Rhein"

Ein Phänomen kann dann als deviant und andersartig eingeordnet werden, wenn zuvor etwas zur „Norm(alität)“ erklärt wird. Diese Normalität ist nicht einfach da, sondern wird gesellschaftlich ausgehandelt. Der Aushandlungsprozesses spiegelt die Machtverhältnisse in einer Gesellschaft wider: Wer den meisten Einfluss hat, bestimmt, was „normal“ bzw. „nicht normal“ ist. An der historisch wie kulturell wechselhaften Bewertung von Tätowierungen und tätowierten Personen zeigen sich solche Prozesse sehr gut. Spamer selbst schrieb, dass in „den heutigen Kulturländern sich die Tätowierung als Gemeinschaftsphänomen auf die sogenannten ‚unteren‘ Volksschichten [beschränkt] und auch in ihnen in wechselnder Stärke zutage [tritt]“ (Spamer 1933, S. 2). Er verweist allerdings auch darauf, dass das nicht immer so gewesen ist und die Tätowierung im 19. Jahrhundert auch in Bürgertum und Adel Mode gewesen war. Ab 1932 verbat der sogenannte Brachtsche Erlass (nach Franz Bracht, seit Juli 1932 zunächst Reichskommissar, dann bis Januar 1933 preußischer Reichsminister des Innern) öffentliche Auftritte und Zurschaustellungen von tätowierten Menschen. Adolf Spamer selbst sah sich 1938 – seit 1936 hatte er den renommierten volkskundlichen Lehrstuhl an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität inne – dem Vorwurf einer mangelhaften ideologischen wie fachlichen Tauglichkeit ausgesetzt, weil Arbeiten wie die Tätowierstudie das nationalsozialistische Gesellschafts- und Wissenschaftsverständnis negierten und noch dazu im „Milieu der Dirnen und Landstreicher“ angesiedelt waren (Personalakte Spamer, Humboldt-Universität). Nach dem Erscheinen seines Artikels in der „Niederdeutschen Zeitschrift für Volkskunde“ und einer Veröffentlichung des gleichen Textes als selbständige Publikation ein Jahr später veröffentlichte er nur ein weiteres Mal zu diesem Thema: Im von ihm herausgegebenen zweibändigen Standardwerk „Die deutsche Volkskunde“ wird die Tätowierkultur im Textband (Berlin 1934) kurz erwähnt; im Bildband (Leipzig 1935) werden das Schaustellerwesen und die Tätowierungen ebenfalls thematisiert und illustriert. Der Dresdner Volkskundler Herbert Bellmann (1903–1961), ein Schüler Spamers und mit diesem im regen Austausch über das Thema, arbeitete Anfang der 1930er Jahre an einer umfangreichen Studie zur Geschichte der europäischen Tätowierungen, die jedoch nie erschienen ist. Möglicherweise ist die Arbeit wie vielleicht auch weitere Veröffentlichungen Spamers dem von der nationalsozialistischen Ideologie diktierten Kanon genehmer und abzulehnender Forschungsthemen zum Opfer gefallen.

Denn seit dem Beginn der nationalsozialistischen Diktatur 1933 wurden auch Schausteller*innen Opfer der NS-Euthanasieprogramme oder als „Asoziale“ in Konzentrationslagern interniert und ermordet. Eine Funktionalisierung als Machtinstrument erfuhr die Tätowierung ebenfalls in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern, indem Häftlingen eine Nummer zwangstätowiert und sie damit zugleich auf diese Nummer reduziert und entindividualisiert wurden. Diese Pervertierung steht dem Charakter der Tätowierung als individuellem oder traditionellem Körperschmuck fundamental entgegen. 

Auch Adolf Spamer verstand Tätowierte und Schausteller*innen zwar als Vertreter*innen eines Milieus, betrachtete sie aber nicht als „Typen“, sondern als Individuen: Viele der von ihm gesammelten Postkarten sind mit umfangreichen biografischen Notizen zu den Abgebildeten und eher persönlichen Bemerkungen zu Sympathie und Antipathie versehen. So urteilte er über den an Hypertrichose (übermäßiger Haarwuchs) erkrankten Schausteller „Lionel der Löwenmensch“: „bringt scheint’s viel Geld ein. Neben dem […] wohlgenährten Impresario noch eine Reihe ähnlicher Gestalten. Hier (= Münchener Oktoberfest 1908) von dem Schaubudenunternehmer Gabriel ausgestellt. Ein persönl. […] recht wenig sympath. Jüngling. Bekommt unaufhörl. Liebesbriefe; Schwarm der Damen. Frau Grüner wünscht sich so einen Sohn. Kann anscheinend kein deutsch; nur das Wort ‚Ansichtskarte‘. In seiner Bude noch der ‚Muskelmensch‘: Großer Schwindel.“ 

Abb. 3: Postkarte: Andenken an Lionel, den Löwenmenschen - Vorderseite

 

Abb. 4: Rückseite einer Postkarte mit einer Notiz von Adolf Spamer

 

Begriff- und Bildkritik

Die von Adolf Spamer gesammelten Bildpostkarten waren ursprünglich Werbematerial für Tätowierer, Schausteller*innen, deren Impresari und daher ein ökonomisch relevantes Element. Die Herstellung solcher Karten leiteten die Akteur*innen üblicherweise selbst in die Wege. Im Schaustellerbereich bot der Verleger Paul Schärff seine Dienste an: „Man schickt Schärff-Gera seine Fotografie oder noch besser ein Klischee ein, dann macht er billig die Karten und auch die Reklameplakate“ (Notiz von Adolf Spamer auf einer Postkarte). 

Obwohl die Bilder in der Regel den Inszenierungsstrategien bürgerlicher Fotografien entsprechen und kaum „visuelle Codes des Anderen“ (Leimgruber 2005, S. 73) bedienen, muss der heutige Umgang mit ihnen kritisch sein, denn sie verbinden in sich „menschliches Leid auf der einen und kommerzielles Kalkül auf der anderen Seite“ (Stammberger 2011, S. 11). Dies schließt auch die Vermeidung zeitgenössischer Begriffe wie „Monster“, „Monstrosität“, „Abnormität“ oder „Kuriosität“ ein, die Vorstellungen von Normalität und Abweichung transportieren. Für den in der englischen Fachsprache gebräuchlichen Begriff „Freak“ im Deutschen gilt dies gleichermaßen. 

Die meisten Postkarten zeigen Personen aus dem europäischen oder amerikanischen Kulturkreis, die Hälfte davon tätowierte Frauen und Männer; andere stellen Krankheiten wie Adipositas, Hypertrichose, Hypersomie oder Mikrosomie zur Schau, worauf bei der Erschließung des Bestandes durch eine Verschlagwortung der betreffenden Krankheit hingewiesen wird. Nur wenige Bilder sind heute als rassistisch einzuordnen. Dazu gehört die Postkarte von „Saida la belle Mulattresse“, einer weiblichen Person of Color in traditionalisierter Kleidung. Spamers Notizen verraten, dass er nicht an ideologischen Kategorien wie „Rasse“, sondern vielmehr an kulturellen Leistungen interessiert war: „Mutter: Deutsche. Seit 7ten Jahr in Dtschl. spricht vorzüglich verschied. Dialekte; z.B. auch münchnerisch. vom 13-16ten Jahr lernte sie lesen, rechnen, schreiben. […] Sie wurde nun „Artistin“ u. da ihr dies nicht viel Geld einbrachte wandernde Kellnerin, womit sie bis jetzt sehr zufrieden – wenigstens in finanzieller Beziehg. ist. Reisen in die Schweiz, Schilderung der Münchner Feste u. d. Caffeehauslebens. Nach der Ankündigung spricht sie dtsch. franz. engl. arabisch.“

Abb. 5: Waschzettel zur Carte de Visite

Eine weitere als rassistisch zu kategorisierende, unnotierte Bildpostkarte zeigt zwei vermutlich aus Südamerika stammende, an Mikroenzephalie erkrankte Männer in wohl traditioneller Kleidung. Mikroenzephalie ist eine Enwicklungsbesonderheit des Menschen, bei der der Kopf nur eine geringe Größe ausbildet. Die Krankheit geht in der Regel mit geistigen Beeinträchtigungen einher und kann durch eine Viruserkrankung der Mutter ausgelöst werden. 

Gleichermaßen problematisch ist auch die Aufnahme Johann und Jakob Tocci im Visitformat aus dem Jahr 1882. Die Zwillinge waren aufgrund einer Doppelfehlbildung am Oberkörper zusammengewachsen. Die Fotografie zeigt die unbekleideten Jungen im Alter von vielleicht vier Jahren auf einem Tuch liegend. Die Obszönität der Aufnahme wurde durch einen der Fotografie mitgelieferten „Waschzettel“ und die darin enthaltenen medizinischen Ausführungen zur Erkrankung pseudowissenschaftlich kaschiert.

 

Bilder wie die der Tocci-Zwillinge oder der unbekannten Südamerikaner sind aus ethischen Gründen höchst problematisch und daher nicht frei zugänglich. Sie sind aber kultur- und wissenschaftsgeschichtlich außerordentlich interessant, denn sie geben, das zeigt Spamers Sammlung deutlich, Auskunft über den zeitgenössischen und akteursspezifischen Umgang mit Forschungsthemen, -objekten und -subjekten. Die Präsentation des Bestandes kann und sollte trotz aller Kritik und im respektvollen und kontextualisierenden Umgang Grundlage für wissenschaftliche Auseinandersetzung über zeitspezifische Formen der Wissensproduktion wie auch der Inklusion und Exklusion sein.

 

Quellen, Literatur

  • Postkarten zu diversen Jahrmarktattraktionen, 1920er/1930er Jahre, in: ISGV/Nachlass Adolf Spamer, NaAS/K37/M1/2
  • Reklamezettel und Werbeanzeigen zu Jahrmarktattraktionen, o.D., ISGV/Nachlass Adolf Spamer, NaAS/K37/M1/3
  • Postkarten von Christian Warlich an Adolf Spamer, 1932/33, in: ISGV/Nachlass Adolf Spamer, NaAS/K37/M3/4
  • Sammlung von Postkarten mit Tätowierungen, 1920er/1930er Jahre, in: ISGV/Nachlass Adolf Spamer, NaAS/K37/M3/5
  • Vorlagealbum des Tätowierers Karl Finke, Hamburg 1927, in: ISGV/Nachlass Adolf Spamer, NaAS/K37/M3/6
  • Humboldt Universität Berlin, Archiv, Personalakten, Uk S 163: Adolf Spamer, Bd. 1 1936–1942
  • Karl Finke, Buch No. 3. Ein Vorlagealbum des Hamburger Tätowierers, hrsg. v. Ole Wittmann, Henstedt-Ulzburg 2017
  • Walter Leimgruber, Bilder vom Körper – Bilder vom Menschen. Kultur und Ausgrenzung um 1900 und heute, in: Zeitschrift für Volkskunde 1010 (2005), S. 69-91
  • Stephan Oettermann, On Display: Tattooed Entertainers in America and Germany, in: Jane Caplan (Hg.), Written on the Body. The Tattoo in European and American History, Princeton 2000, S. 193-211
  • Adolf Spamer, Die Tätowierung in den deutschen Hafenstädten. Ein Versuch zur Erfassung ihrer Formen und ihres Bildgutes, in: Niederdeutsche Zeitschrift für Volkskunde 11 (1933), S. 1-55, 129-182
  • Birgit Stammberger, Monster und Freaks. Eine Wissensgeschichte außergewöhnlicher Körper im 19. Jahrhundert, Bielefeld 201