Projekt: "Kleines Andachtsbild"

Kleine Andachtsbilder aus dem Nachlass Adolf Spamers

Abb.1: Kreuztragung

von Nadine Kulbe

 

Über einen Zeitraum von 20 Jahren sammelte der Volkskundler Adolf Spamer sogenannte kleine Andachtsbilder. Die Bilder dienten ihm nicht für den religiösen Gebrauch, sondern als Forschungsobjekte. 400 Bilder aus der ursprünglich umfangreicheren Sammlung sind heute noch am ISGV vorhanden. Sie zeigen die Vielfalt des Bildgenres und seine Veränderungen beispielhaft auf. Zugleich gibt die Sammlung Einblick in wissenschaftliche Arbeitspraktiken in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Der Begriff „kleines Andachtsbild“ ist nicht historisch belegt, sondern eine wissenschaftliche Konstruktion, die Funktion und Größe einer bestimmten Bildform beschreibt: Als kleine Andachtsbilder bezeichnet werden kleinformatige Bilder mit christlich-religiösen Motiven. Sie dienen der privaten Andacht, der Erinnerung an Verstorbene oder an besondere religiöse Ereignisse, aber auch als Geschenk zwischen Freund*innen. Kleine Andachtsbilder werden auch Gebetbuchbildchen, Wallfahrtsbildchen, Heiligenbildchen oder religiöse Einlegezettel genannt. Indem sie Emotionen, Gedanken oder Handlungen hervorrufen, die Ausdruck der persönlichen Frömmigkeit oder des individuellen Geschmacks sein können, verbinden die kleinen Andachtsbilder ästhetische mit religiösen Erfahrungen. 

 

Die ältesten kleinen Andachtsbilder stammen aus dem 14. Jahrhundert; im Gebrauch sind sie bis heute. Verändert hat sich über die Jahrhunderte vieles: die Techniken der Herstellung, das verwendete Material, die Motive. Im 19. Jahrhundert hat sich das Genre von einem handgefertigten Einzelstück hin zu einem Massenprodukt entwickelt. 

Ihre massenhafte Verbreitung, ihr religiöser Charakter, ihr Gebrauch im privaten Alltag und ihre vielfältigen Erscheinungsformen haben kleine Andachtsbilder Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zu einem begehrten Objekt für private Sammlerinnen und Sammler werden lassen. Von wissenschaftlicher Seite und von Museen gab es allerdings kaum Interesse, zu unbedeutend und gewöhnlich schien das populäre Massenprodukt. Nur das am Anfang des 20. Jahrhunderts noch sehr junge akademische Fach Volkskunde wurde auf sie aufmerksam. Zu den Bereichen, die hier von Beginn an bearbeitet wurden, gehören die Populärkultur (zeitgenössisch Volkskultur bzw. Massenkultur), religiöse Praktiken und visuelle Zeugnisse. Diese Themenfelder vereinen sich im kleinen Andachtsbild als massenhaftem Gebrauchsartikel mit religiösen Motiven. 

 

Wissenschaftliches Interesse

Die Wortkreation „kleines Andachtsbild“ geht auf den Volkskundler Adolf Spamer (1883–1953) zurück, der die kleinformatigen Zettel von den großformatigen Andachtsbildern – gemalte oder geschnitzte religiöse Darstellungen – unterscheiden wollte . 

Adolf Spamer gehört zu den bedeutendsten Vertretern des Fachs Volkskunde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das erste Mal mit kleinen Andachtsbildern in Berührung kam er vermutlich um 1907. In diesem Jahr hatte er eine Stelle beim Bayerischen Verein für Volkskunst und Volkskunde in München angetreten. Der Ministerialrat Philipp von Kremer (1853–1925) wurde vom Verein bei der Publikation seiner umfangreichen Sammlung kleiner Andachtsbilder unterstützt. Spamer sollte das Vorhaben wissenschaftlich begleiten. 1930 erschien die Monografie „Das kleine Andachtsbild vom XIV. bis zum XX. Jahrhundert“, in der der seine über zwanzig Jahre hinweg gesammelten Erkenntnisse zu den kleinen Andachtsbildern zusammenfasste und einen Teil der Sammlung Philipp von Kremers präsentierte. Bis heute zählt das Buch zu den Standardwerken der Volkskunde/Kulturanthropologie.

Grundlage für Spamers Forschungen waren Sammlungen, die sich vor allem in privater Hand oder in klösterlichem Besitz befanden. Neben größeren privaten Konvoluten, wie jener von Kremers oder des Landshuter Antiquars Max Kummer, fand und nutzte er unter anderem die Sammlungen der Benediktinerabtei Beuron, des Klosters Disentis und der Erzabtei St. Ottilien. Auch begann er selbst zu sammeln. Seine Kollektion wuchs im Laufe der Jahre wohl auf rund 1.300 Stücke an. Davon sind heute noch etwa 400 als Teil seines Nachlasses, der im Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde verwahrt wird, vorhanden. Er begann bereits zu Lebzeiten, Einzelstücke, aber auch größere Teile seiner Sammlung zu verschenken. Nach seinem Tod setzte seine Haushälterin Anna Angerstein dies fort. Größere Teile aus Spamers ursprünglicher Sammlung werden inzwischen unter anderem im Stadtmuseum Münster oder im Bischöflichen Zentralarchiv Regensburg verwahrt .

 

Abb. 2: Heilige Klara

Spamers am ISGV verwahrter Nachlass, dokumentiert fast sein ganzes Forscher- und Sammlerleben. Das Sammeln von Objekten und Informationen gehört zu den frühen Praktiken, die volkskundlich interessierte Personen und Vereine angewendet haben. Dahinter stand die Idee, diese dauerhaft zu verwahren, um sie vor dem Verlust zu bewahren. Viele solcher Sammlungen wurden später die Grundlage wissenschaftlicher Forschungen und/oder bilden die Grundlage von musealen Beständen. Die meisten Objekte, die das Interesse von Sammler*innen weckten, waren Gegenstände des alltäglichen Lebens. Sammeln aber bedeutet, diese Objekte von ihren ursprünglichen Verwendungszwecken zu lösen und sie in eine Sammlung – und damit in einen neuen Verwendungszusammenhang – zu integrieren: Kleine Andachtsbilder in einer Sammlung dienen nicht länger dem Glauben, der Erinnerung oder der Transzendenz, sondern dem wissenschaftlichen Vergleich, der Analyse und dem Erkenntnisgewinn.

Nachlässe und Sammlungen bieten einen fragmentierten Zugang zu den (Arbeits)Biografien der Sammler*innen, denn sie setzen sich aus vielen einzelnen Objekten zusammen, die erst in der Zusammenschau Einblick in Leben und Wirken gewähren. Zugleich sind Nachlässe wie der Adolf Spamers eine organische Einheit, in der Elemente in Beziehung zueinanderstehen können. So wird seine Sammlung kleiner Andachtsbilder durch eine sehr große Menge an Notizzetteln, Manuskripten, Zeitungsartikeln, wissenschaftliche Literatur oder Leihzetteln von Bibliotheken ergänzt. Solche Materialakkumulationen helfen uns heute zu verstehen, wie Wissenschaftler*innen in früheren Zeiten Wissen produziert haben – ohne moderne Kommunikationsmittel, Digitalisierung und die theoretisch weltweite Verfügbarkeit von Informationen. 

 

Praktiken des Sammelns

Abb. 3: Tafel mit vier kleinen Andachtsbildern [186142]

Viele Arbeits- und Sammelpraktiken des Wissenschaftlers Adolf Spamer lassen sich anhand des Nachlassmaterials rekonstruieren: zum Beispiel das Suchen und Finden von Informationen und Objekten. Exponate für seine eigene Sammlung erwarb er beispielsweise in Antiquariaten, aber auch auf Jahrmärkten. Eines der ältesten Bildchen, eine kolorierte Radierung der heiligen Klara, hatte er 1908 auf der Auer Dult, dem traditionellen Münchner Jahrmarkt, gekauft. Antiquarische Ankäufe, so bei Gillhofer und Ranschburg in Wien, bezeugen mehrere erhaltene Rechnungen. 

Eine der wichtigsten Informationsquellen für die Forschungen aber waren die Privatsammler*innen, die dem Wissenschaftler nicht nur Bilder zur Verfügung stellten, sondern ihn auch mit ihrer Expertise unterstützten. Kontakt hielt man mittels Briefen oder Postkarten. Oft vermittelten sie auch weitere ihnen bekannte Sammler*innen. Sofern Spamer solcherart Privatsammlungen konsultieren konnte, fertigte er Notizen an. Bisweilen transkribierte er den Text und zeichnete die Bilder in vereinfachter Form ab. 

Einen Teil seiner eigenen Originale klebte er zudem zur stabilen Aufbewahrung auf farbigen Karton und deckte sie mit Pergaminfolie ab. Welche Ordnung seine Sammlung hatte, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Das Arrangement mehrerer Andachtsbildchen auf einem Karton lässt aber vermuten, dass er sie wohl in Motivgruppen anordnete.

Einen genaueren Einblick in Spamers Sammlungspraktiken gewährt die virtuelle Ausstellung „Glauben | Sammeln. Adolf Spamers Sammlung kleiner Andachtsbilder“ bei der Deutschen Digitalen Bibliothek. An einhundert ausgewählten Objekten wird gezeigt, wie und warum der Wissenschaftler Bildchen zusammentrug und mit ihnen arbeitete.

 

Motive, Material und Funktionen

Abb. 4: Andachtsbild mit Gnadenbild Marias mit Jesuskind

Obwohl heute nur noch etwa ein Drittel des ursprünglichen Sammlungsbestandes am ISGV vorhanden ist, geben diese immer noch einen guten Überblick über die motivische und materielle Bandbreite des Bildmediums. Eines der ältesten erhaltene Andachtsbildchen stammt vom Ende des 15. Jahrhunderts, die jüngsten aus dem frühen 20. Jahrhundert. Weil die Sammlung überwiegend Bildchen katholischer Provenienz enthält, sind besonders viele Marienbildnisse enthalten. Aber es finden sich auch Darstellungen Jesu, von Heiligen oder religiösen Orten, so das bekannte Kloster Andechs oder die Gnadenkapelle Altötting.

Abb. 5: Andachtsbild mit Darstellung der verstorbenen Maria Crescentia

Die meisten Andachtsbildchen sind auf Papier gedruckt, das ein kostengünstiger und vielseitiger Werkstoff ist. Eine Besonderheit ist das sogenannte Luxuspapier. Dabei handelt es sich um Papiere, die veredelt, verziert oder aufwendig bearbeitet worden sind. Zu den Luxuspapieren gehört das Spitzenpaper, das oft zur Gestaltung und Aufwertung kleiner Andachtsbilder verwendet wurde. Ursprünglich wurden die Spitzenmuster von Hand geschnitten. Erst mit der Entwicklung entsprechender Maschinen im 19. Jahrhundert war es möglich, Papierspitze auch industriell herzustellen.

Abb. 6: Sterbebild "Memento"

Verwendet wurden aber auch Materialien, die man eher nicht erwarten würde: zum Beispiel Stoff oder Gelatine. In der Sammlung Adolf Spamers haben sich vor allem Exponate aus gefärbter Seide erhalten, die besonders edel wirken. Sogenannte Hauchbildchen waren hingegen als Spielerei vor allem für Kinder gedacht. Bei Wärme – durch Anhauchen oder Hautkontakt – rollen sich die hauchdünnen, durchscheinenden Bildchen ein. Grundlage für diesen Effekt war zunächst ein Bindemittel, das aus der Schwimmblase eines Fisches, des Europäischen Hausen (Beluga-Stör), gewonnen wurde. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts setzte sich dann die günstigere Gelatine durch. 

Neben den bis zur Erfindung moderner Drucktechniken verbreiteten Druckverfahren Holzschnitt, Kupferstich, Radierung und Lithografie treten auch unikale Varianten wie Handzeichnungen und Collage. Für Letztere wurden unterschiedliche Materialien kombiniert und zusammengeklebt. Bei kleinen Andachtsbildern konnten Bildteile ausgeschnitten und mit Stoffen ersetzt oder Papier, Stoff und Metalle zu einem Bild arrangiert werden.

Dem Umgang mit kleinen Andachtsbildern außerhalb des wissenschaftlichen Kontextes liegen religiöse Praktiken zugrunde; ihre Funktionen können jedoch durchaus unterschiedlich sein. Häufig erinnerten sie an Wallfahrten, konnten aber auch dem Andenken besonderer religiöser Ereignisse oder von Personen dienen. Eine besondere Form des Andenkens sind Sterbebildchen, die auf der Vorderseite ein Bild oder das Portrait der Verstorbenen und auf der Rückseite biografische Angaben sowie einen Bibelspruch tragen. Trauergäste erhielten sie beim Gottesdienst. Der Brauch war im 19. Jahrhundert in katholischen Gebieten in ganz Europa verbreitet und wird vereinzelt heute noch praktiziert.

Als Freundschaftsbeweis unter Kindern wie auch als Motivationsanreiz in der Schule dienten „Fleißbildchen“. An ihnen wird eine Entwicklung deutlich, die kleine Andachtsbilder als Massenprodukt auch nehmen konnten: weg von religiösen Devotionalien hin zu einem säkularisierten Objekt.

 

Quellen, Literatur

Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde, Nachlass Adolf Spamer: Material zum kleinen Andachtsbild.

Adolf Spamer, Spitzenbilder, in: Max Bucherer (Hg.), Spitzenbilder, Papierschnitte, Porträtsilhouetten, München 1920, S. 5-9.

Adolf Spamer, Das kleine Andachtsbild, in: Bayerischer Heimatschutz 21 (1925), S. 110-126

Adolf Spamer, Das kleine Andachtsbild vom XIV. bis zum XX. Jahrhundert, München 1930.

Martin Scharfe, Evangelische Andachtsbilder. Studien zu Intention und Funktion des Bildes in der Frömmigkeitsgeschichte vornehmlich des schwäbischen Raumes, Stuttgart 1968.

Christa Pieske (Bearb.), Das ABC des Luxuspapiers. Herstellung, Verarbeitung und Gebrauch 1860–1930, Berlin 1983.

Daniela Stemmer, Adolf Spamer und die kleinen Andachtsbilder, in: Christa Pieske u.a. (Hg.), Arbeitskreis Bild Druck Papier. Tagungsband Dresden 2005, München u.a. 2006, S. 83-102.

Ina Dietzsch/Sabine Imeri, Zettels Alltag oder die Geheimnisse des wissenschaftlichen Handwerks, in: Wolfgang Kaschuba (Hg.), Alltagswelt Universität (Jahrbuch für Universitätsgeschichte 10), Stuttgart 2007, S. 105-139.

Johannes Moser, Schätze der Frömmigkeit, in: ders. (Hg.): Spurensuche. Einblicke in die Sammlungen des Instituts für Sächsische Geschichte und Volkskunde, Dresden 2005, S. 20-27.

Nadine Kulbe, Der Nachlass Adolf Spamers. Erschließung und Digitalisierung, in: Enno Bünz/Winfried Müller/Martina Schattkowsky/Ira Spieker (Hg.), Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde 1997–2017 (Spurensuche. Geschichte und Kultur Sachsens 7), Dresden 2017, S. 100-108.

Nadine Kulbe, Spamer, Andachtsbild, München 1930. Zur Entstehung eines Buches, in: Volkskunde in Sachsen 32 (2020), S. 145-166.

Ausstellung „Glauben | Sammeln. Adolf Spamers Sammlung kleiner Andachtsbilder“ bei der Deutschen Digitalen Bibliothek.

 

Weitere Informationen zum Nachlass Adolf Spamers und seiner Erschließung gibt es auf der Projektseite des ISGV