Projekt: "Neue Sichtweisen"

Zum Aufleben einer Aussichtsturmbegeisterung

von Andreas Martin 

 

Türme, Plattformen, Aussichtspunkte: In Sachsen gibt es eine Vielzahl von Orten, die einen erhabenen Ausblick über die Landschaft gewähren. Seit Ende des 18. Jahrhunderts die ersten Aussichtsorte entstanden, haben sie sich auch als wichtiger Teil der touristischen Infrastruktur etabliert. 

 

Frühe Ausblicke

Abb. 1: Monolith in Wiesenbad
Abb. 2: Aussicht vom Porsberg

Das Phänomen „Aussicht“ und die Erschließung von Orten, die einen solchen Weitblick ermöglichen, ist historisch mit der Emanzipation der bürgerlichen Gesellschaft verbunden und war architektonisch an adlige Lebenswelten angelehnt. In der Ratgeberliteratur zur Anlage von Landschaftsgärten um 1800 avancierte die „Aussicht“ zu einem zentralen Thema. Der Übergang vom Point de vue (einer die Landschaft prägenden Architektur als Blickfang) zum Genuss des Landschaftsüberblicks von einem spezifischen Ort aus (dem Aussichtspunkt) markierte den Beginn einer inzwischen mehr als 200jährigen Entwicklung. Beispiele, an denen sich dieser Wandel nachvollziehen lässt, bieten der Friedrichsgrund und die Ruine auf dem Schlossberg bei Dresden-Pillnitz, die Anlagen mit dem sogenannten Raubschloss bei Mittweida-Liebethal und der Garten mit Meys Ruhe am ehemaligen Badeberg in Thermalbad Wiesenbad bei Annaberg.

Abb. 3: Vermessungssäule auf dem Keulenberg bei Pulsnitz 

Der von Zeitgenossen auch „altes Schloss“ genannte Bau auf dem Pillnitzer Schlossberg war zunächst als Blickfang – einsehbar von der Sommerresidenz des Kurfürsten – errichtet worden: ein Point de vue im Rahmen der Landschaftsgestaltung. Hier, am Rand des Borsberger Plateaus, wurde das Gelände in den 1770er- und 1780er-Jahren dem Zeitgeschmack folgend kunstvoll gestaltet, was die öffentliche Aufmerksamkeit erregte und Publikum anzog. Die Anlage des als „Friedrichsgrund“ bekannten Weges entsprach den gesellschaftlich etablierten Vorstellungen von einer ‚idealen‘ Landschaft, wie sie auch in anderen Regionen Sachsens zeitgleich gestaltet wurde. Einen vergleichbaren Landschaftspark hatte Joseph Friedrich von Racknitz (von 1790 bis 1800 Hofmarschall am kurfürstlichen Hof) auf dem Gelände seines 1799 ererbten Gutes Ringethal angelegt. Und auch das Wiesenbad bei Annaberg, seit 1771 im Besitz des Präsidenten des Geheimen Finanzkollegiums Georg Reinhard Graf von Wallwitz, wurde schon zu Beginn der 1780er-Jahre als „großer Lustgarten“ beschrieben. Das Wissen um die Bedeutung der Anlagen bei Ringethal und Wiesenbad ging allerdings infolge fehlender Überlieferung, schwindender gesellschaftlicher Relevanz und späterer industrieller Überformung verloren. Doch existieren in diesen frühen Kunstlandschaften noch heute Architekturen, die zum einen als Points de vue Blickfang sind und zum anderen einen landschaftlichen Überblick bieten: die „Gotische Ruine“ auf dem Schlossberg von Pillnitz, das „Raubschloss“ auf einem Bergrücken über der Zschopau bei Ringethal, „May´s Turm“ auf der ehemals „Meys Ruhe“ genannten Höhe und der Obelisk „Der Erinnerung gewidmet“ in Thermalbad Wiesenbad.

Der Ausblick von der Eremitage, um 1770 auf dem Borsberg errichtet und als Teil des Pillnitzer Landschaftsparks auch als „Observatorium“ bezeichnet, wies den Reisenden den Weg in das an den Ufern der Elbe liegende Sandsteingebirge. Diese Bergwelt wurde immer häufiger auch zum Ausflugsziel für die Dresdner Stadtbevölkerung. Angesichts der wirtschaftlichen Relevanz wurden erste infrastrukturelle Maßnahmen ergriffen, um den Zugang und das Erleben dieser Landschaften zu ermöglichen. Im Zuge der in den 1860er-Jahren begonnenen preußischen Landesvermessung ließen die beauftragten Kommissare auf vielen über das gesamte Land verteilten Höhen Vermessungssäulen errichten. Vereinzelt entstanden einfache Gerüste, die ebenfalls als Aussichtstürme genutzt wurden.

Abb. 4: Vorläufer-Postkarte Gruss vom Beutenberg mit einer Darstellung des Aussichtsturms

Die seit dem Ende der 1870er-Jahre gegründeten Gebirgsvereine griffen das in der Bevölkerung inzwischen verankerte Interesse am Entdecken der Landschaft auf: Hunderte von Aussichtsorten wurden durch Ruhebänke, Sicherheitsgeländer, Pavillons oder – wo es Sichthindernisse erforderten – Türme erschlossen. Die Mitglieder der sächsischen Gebirgsvereine fühlten sich dem Herrscherhaus verbunden. Entsprechend erhielten die Aussichtsbauwerke Namen von Angehörigen des Hauses Wettin, wie der Luisenturm auf dem Geising bei Altenberg, der Prinz-Georg-Turm auf dem Unger bei Neustadt oder der Prinzess-Marien-Turm auf der Dreibrüderhöhe bei Marienberg.  

 

Bismarcktürme und Aussichtslosigkeit

Abb. 5: Postkarte Frankenberg in Sachsen, Bismarckturm

Nach der Reichsgründung im Jahr 1871 entstanden bis 1914 etwa 200 Neubauten, bei denen sich die Namensgebung an der zunehmend national gesinnten politischen Ausrichtung orientierten. Die bekanntesten Varianten dieser Aussichtsarchitektur sind die Bismarcktürme. Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs endete diese Bautätigkeit; [5] lediglich im Zusammenhang mit der städtischen Trinkwasserversorgung wurden vereinzelt Türme errichtet, die auch als Ausblicksorte genutzt werden konnten. 

Einen kurzzeitigen Aufschwung erlebte das Phänomen „Aussicht“ bis in die 1930er-Jahre aufgrund der Möglichkeit, frühe Vergnügungsparks (die sogenannten Lunaparks) sowie Areale von Großausstellungen mit gewerblichen und kulturellen Präsentationen von zeitlich befristet errichteten Türmen aus überblicken zu können. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs veränderten sich Landschaften und Blickachsen auch in Sachsen: Viele traditionsreiche Aussichtspunkte verschwanden, denn durch fehlende Pflege nahm die Überwucherung der Orte zu, Anlagen wurden marode. Zudem war der ‚Weitblick‘ vor allem in den grenznahen Mittelgebirgen politisch nicht länger gewollt. Die Erhaltung von Überblicksorten scheiterte oft an mangelndem Interesse der neuen staatlichen Eigentümer, oder aber die Orte wurden infolge politischer Entwicklungen für die Öffentlichkeit gesperrt. 

Während der DDR-Zeit entstanden nur wenige Neubauten, die dem Landschaftsüberblick gewidmet waren. Die schöne Aussicht galt eher als positiver Nebeneffekt, denn als primäre Nutzungsmöglichkeit: Der Turm an der Großgaststätte auf dem Fichtelberg, die Plattform über dem Café auf dem Fernsehturm in Dresden sowie die Aussichtsebene auf dem Universitätshochhaus im Leipziger Zentrum sind Beispiele hierfür. Doch nach 1990, infolge der Vereinigung der beiden deutschen Staaten, erlangte die Landschaftsaussicht erneut überraschende Popularität – sei es im urbanen oder im ländlichen Bereich – und entwickelte sich zu einem offenbar unverzichtbaren Bestandteil der neu entstehenden touristischen Infrastruktur. 

 

Neue Aussichten 

Abb. 6: Postkarte Scheibenberg (Erzgebirge)

Bis zu Beginn der 2020er-Jahre entstanden Aussichtsorte in neuer Vielgestaltigkeit und in einer kaum zu erwartenden Quantität. So erlebte eine erhebliche Zahl bereits abgetragener Aussichtsbauwerke ihre Auferstehung. Die Neuerrichtung an überlieferten Standorten orientierte sich dabei häufig an der Gestaltung der frühen 2000er Jahre. Es kam zudem zu umfangreichen Rekonstruktionen ruinöser und gesperrter Bauten. Neben der Wiederherstellung der Verkehrssicherheit stand immer auch das Bemühen, Aussichtserlebnisse in entstehende touristische Strukturen zu integrieren. Die Erhaltung und die Neuschaffung von Ausblicken wurden in vielen Fällen auf Landes-, Bundes- und europäischer Ebene finanziell gefördert. Außer dem Erleben gewachsener geotopografischer Landschaften galt das Interesse den infolge der wirtschaftlichen Transformation entstehenden „Neu“-Landschaften. Einzelne ältere Bauwerke offenbarten infolge der Verwaltungsgebietsreformen in den 1990er-Jahren auch ihre Bedeutung als Symbole regionaler Identifikation, wie einzelne Gemeindewappen von Steinberg, Stützengrün und Kottmar beispielhaft belegen. 

Für eine quellenorientierte Beschreibung der Genese von Aussicht und deren Infrastrukturen waren mikrohistorische Untersuchungen zu einer Vielzahl von Orten notwendig, die aufgrund ihrer Möglichkeit des Landschaftsüberblicks von der Gesellschaft als solche wahrgenommen und beschrieben wurden. Vielfältige historische Objekte touristischer und architektonischer Art, aber auch archivalische und bildkünstlerische Überlieferungen lassen den zeitgenössischen Umgang mit der Aussicht nachvollziehbar werden. Mehr als 450 Orte, auf die mit touristischem Kontext im Zeitraum vom 18. bis zum 21. Jahrhundert hingewiesen wurde, sind in der Publikation „Aussicht! Der Landschaftsüberblick und seine Orte in Sachsen“ beschrieben. Dieses umfangreiche Werk entstand Im Rahmen des Forschungsprojekts „Neue Sichtweisen. Zum Aufleben einer Aussichtsturmbegeisterung“; über mehrere Jahre wurde ein umfassender Quellenfundus aus Plänen, Zeichnungen, Postkarten und Fotografien zusammengetragen, der einen illustrierten historischen Überblick über dieses kulturelle Phänomen ermöglicht. Die Bilddokumente, die in diesem Zusammenhang entstanden sind, umfassen etwa 6.000 Datensätze im Digitalen Bildarchiv des ISGV. 

Abb. 7: Der neue Aussichtsturm auf dem Scheibenberg

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Literatur:

Joachim Kleinmanns: Schau ins Land. Aussichtstürme, Marburg 1999.

Hansjörg Küster: Schöne Aussichten. Kleine Geschichte der Landschaft, München 2009.

Andreas Martin: Aussicht! Der Landschaftsüberblick und seine Orte in Sachsen (Quellen und Materialien zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 7), Leipzig 2024.

Friedemann Schmoll: Der Aussichtsturm. Zur Ritualisierung touristischen Sehens im 19. Jahrhundert, in: Christoph Köck (Hg.): Reisebilder. Produktion und Reproduktion touristischer Wahrnehmung, Münster 2001, S. 183-198.

Daniel Speich: Wissenschaftlicher und touristischer Blick. Zur Geschichte der „Aussicht“ im 19. Jahrhundert, in: Traverse. Zeitschrift für Geschichte 6 (1999), 3, S. 83-99.

Sabine Verk: Zur Geschichte der Aussichtstürme im Sauerland, in: Dietmar Sauermann (Hg.): Gute Aussicht. Beiträge und Bilder aus der Frühzeit des Fremdenverkehrs im Sauerland, Rheda-Wiedenbrück 1990, S. 101-116.