Projekt: "Erinnerungen an den Krieg"
Das Fotoalbum des Soldaten Hans Grützner
Von Philipp Eller und Nick Wetschel
In den ‚Kriegs-Erinnerungen’ von Hans Grützner finden sich nur wenige Bilder, die das Kriegsgeschehen selbst dokumentieren. Trotzdem sind der Bestand an Feldpostkarten und das Fotoalbum des Soldaten typisch für private Sammlungen aus dem Ersten Weltkrieg (1914–1918).
Soldaten sammelten von Beginn des Ersten Weltkriegs an (Feld-)Postkarten, Fotos und Zeitungsausschnitte. Die in Alben, Zigarrenschachteln oder losen Bündeln aufbewahrten Stücke erinnern an die Teilnahme am Krieg und dessen einschneidende Konsequenzen. Der Erste Weltkrieg hat Lebensläufe, Landschaften, Gesellschaftsordnungen und die internationale Politik in Europa und der Welt radikal verändert.
Die (außen-)politische Stimmung in und zwischen den europäischen Staaten war bereits seit der Jahrhundertwende angespannt: Ein (großer) Krieg erschien in der Situation von kolonialer Konkurrenz, nationalem Ressentiment und militärischem Wettrüsten mittelfristig erwartbar – und er schien auch die erhoffte Lösung außenpolitischer und gesellschaftlicher Probleme zu gewährleisten. Jedoch hatte die Mehrheit der internationalen Diplomatie und der Militärs – und schon gar nicht die einzelnen Kombattanten – mit einem mehr als vier Jahre andauernden Krieg gerechnet. Am 28. Juli 1914 erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg; die Ermordung des Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand und seiner Gemahlin Sophie Chotek, Herzogin von Hohenberg, in Sarajevo bot einen willkommenen Anlass. Die schnelle Eskalation erfolgte aufgrund von Bündnissystemen und Sicherheitsgarantien. Das Deutsche Kaiserreich, Österreich-Ungarn, das Osmanische Reich und Bulgarien führten in Europa einen Zweifrontenkrieg unter Beteiligung von weltweit einberufenen Kombattanten. Der erste mit industrieller Unterstützung geführte Krieg der Menschheitsgeschichte ging von einem Bewegungskrieg schnell in einen Stellungskrieg über. Während die Frontlinien erstarrten, lief die Zerstörungsmaschine weiter: Vor allem das massenhafte Töten auf Distanz trat als neue Konstellation zu bekannten Kampfhandlungen und Kriegsgewalt hinzu. Mehr als neun Millionen getötete Soldaten waren zu beklagen. Die Folgen des Krieges reichten in alle beteiligten Gesellschaften hinein – auch wenn, wie im Deutschen Reich, die ‚Heimatfront‘ weit von den Kampfhandlungen entfernt blieb. Baldige Ernüchterung war die Folge. Doch erst am 11. November 1918 endete der Krieg durch einen Waffenstillstandsvertrag, den das Deutsche Reich akzeptieren musste.
Hans Grützners Album – Massenprodukt, Ego-Dokument, Sammlungsbestand
Soldatische Erinnerungsalben finden sich keineswegs selten in (wissenschaftlichen) Sammlungen und auf dem antiquarischen Markt. Der Chemnitzer Soldat Hans Grützner legte ein solches Buch mit „Kriegs-Erinnerungen“ an, das sich heute im Lebensgeschichtlichen Archiv des ISGV befindet. Bei diesem 19 x 14 Zentimeter messenden Album handelt sich um ein preiswertes Massenprodukt; es besteht aus 48 Kartonseiten mit Laschen zum Einstecken der Bilder. Die Schmuckprägung auf dem Titel zeigt die Flagge Österreichs und die deutsche Reichskriegsflagge, zusammengehalten von einem Siegeskranz: ein Propagandamotiv, das in zahlreichen Varianten zu finden ist. In seinem Erinnerungsbuch sammelte Hans Grützner Postkarten und Fotos aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Weiterhin finden sich einzelne Postkarten aus der Zeit nach 1945.
Wie das Album in das Lebensgeschichtliche Archiv des ISGV gelangt ist, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Zwischenzeitlich war es gemeinsam mit zwei Stapeln von Postkarten und Fotos abgelegt, ein Zusammenhang zwischen diesen Materialien wurde jedoch nicht vermutet. Im Zuge der Erschließung des Albums und der Fotobestände für das Lebensgeschichtliche Archiv und das Bildarchiv ließen sich die Objekte allerdings zweifelsfrei aufeinander beziehen. Da die Sammlung in ihrer Zusammensetzung offenbar verändert wurde, ihr ursprünglicher Umfang unklar und ihr Verbleib unbekannt ist, bleiben die Motive und Präferenzen von Grützner bei der Zusammenstellung seines Albums nur vage nachvollziehbar. Die Briefe, die immer wieder auf den Postkarten erwähnt werden, finden sich nicht darunter. Auch aus der Kommunikation mit der Familie oder Freunden ‚zuhause‘ haben nur vereinzelte Postkarten ihren Weg in das Album gefunden.
Hans Grützner aus Chemnitz – Wandervogel, Mechaniker, Soldat
Es ist eine sehr persönliche Sammlung, die Hans Grützner angelegt hat – über seine Person lässt sich allerdings nur Bruchstückhaftes zusammentragen. Immerhin erlauben die Anreden auf den Postkarten und die wenigen weiterführenden Informationen auf der kleinen Schreibfläche einige Einordnungen zu Hans (Johannes) Grützners Lebensumständen: Er lebte mit seiner Familie in einer Wohnung in der Orthsstraße in Chemnitz-Hilbersdorf und war offenbar in einem Turnverein und in der Wandervogelbewegung aktiv. Wo und in welchem Beruf er gearbeitet hat, lässt sich nicht genau rekonstruieren. Sein Bruder Paul wird im Chemnitzer Adressbuch als Mechaniker geführt, Hans findet sich dort ab 1926 als Werkmeister aufgelistet (vorher gibt es zu ihm keinen gesonderten Eintrag). Einige Bilder zeigen ihn offensichtlich mit Kollegen an seinem Arbeitsplatz. Da Beschriftungen fehlen, ist dieser aber nicht lokalisierbar. Sein Vater Hugo Grützner war Lokomotivführer in Chemnitz. Hans hatte mindestens drei Brüder: Georg, Erich und Paul. Während sich von Paul zahlreiche Postkarten finden, sind Mitteilungen von Georg und Erich selten. Über Georg ist nichts bekannt, von Bruder Erich lässt sich rekonstruieren, dass er bereits am 24. September 1914 beim Infanterie-Regiment 181 in Chemnitz für den Kriegseinsatz ausgebildet wurde. Die meiste Post stammt von seinem Bruder Paul. Der Uhrmacher betrieb ein Geschäft auf der Zschopauer Straße und war mit Hedwig verheiratet. Das Adressbuch führt ihn, wie die übrige Familie, im ersten Stock der Orthsstraße 14 in Chemnitz-Hilbersdorf auf. Eventuell stammte er aus einer früheren Verbindung der Mutter, denn mit Nachnamen hieß er Richter.
Wie seine Brüder, Vereinsfreunde und die meisten anderen jungen Männer seiner Generation wollte oder musste auch Hans Grützner am Krieg teilnehmen. Er wurde etwa ein Jahr nach Kriegsbeginn eingezogen, spätestens im September 1915, denn am 19. Oktober 1917 gratulierte ihm sein Bruder zur Entlassung nach fast zweijähriger Dienstzeit als Soldat. Nach einem Aufenthalt in Rüdesheim am Rhein wurde er Ende 1915 oder Anfang 1916 in Serbien eingesetzt. Kurz darauf erfolgte die Verlegung seiner Einheit per Zug an die Westfront.
Hans Grützner war als Kraftfahrer bei der Feldpost tätig, also in der Etappe hinter der Front eingesetzt – ein ebenso beliebter wie verspotteter, da vergleichsweise sicherer Einsatzort.
Sein Bruder Paul ist erstmals 1915 in Uniform abgelichtet. Im Juli schickte er Hans eine Karte, die ihn als Soldat zeigt. Im Oktober desselben Jahres meldete sich Paul mit einer weiteren Karte vom Transport nach Vilnius im heutigen Litauen. Eine Postkarte vom Mai 1916 zeigt das letzte Haus vor dem Eingang zum Schützengraben. Er verband die Nachricht mit dem Wunsch: „Hoffentlich geht der elende Krieg recht bald zu Ende.“
Ein weiteres Bild zeigt Paul im Juni 1917 vor der „Gefechtsstation Karlsfeste“, die sich wohl am Hartmannswillerkopf in den Vogesen befand. Spätestens seit diesem Zeitpunkt scheint er in der Etappe eingesetzt worden zu sein. Im Jahr 1917 war er als Lagerverwalter tätig, im November wurde er „zum Starkstrom“ versetzt, war also in einer Einheit, die mit Energieversorgung für Beleuchtung, aber auch für elektrische Drahtsperren im Kampfgebiet verantwortlich war. 1918 wurde Paul Richter vermutlich erneut nach Russland verlegt.
Wenige Informationen deuten in dieser Zeit auf eine Liebesbeziehung hin. Auf einer Postkarte, die Hans Grützner offenbar nicht abgeschickt hatte, erläuterte er im Oktober 1915 einer Frau namens Olga die Gründe, die seinen Besuch verhindert hatten. Und Mitte September 1917 beschwerte sich „Freund Erich“ bei Hans, dass dieser seinen letzten Brief nicht beantwortet habe; weiterhin fragte er explizit nach dem Stand der Beziehung zu jener Olga. Ob und was Hans Grützner antwortete, ist leider nicht überliefert.
Neben Bildern vom Soldaten Grützner sind vor allem Postkarten erhalten, die ihm Kollegen und Freunde aus dem Kriegseinsatz geschickt haben. Es finden sich aber auch Bilder und Postkarten seiner Familie darunter, die keinen Bezug zu Kampf, Besetzung und Etappe haben. Nur selten geben Beschriftungen darüber Auskunft, was oder wer auf den Bildern zu sehen ist. Nur wenige Fotos zeigen Szenen aus dem Kriegsalltag.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellte die Fotografie schon lange keine Neuheit mehr dar. Seit den ersten Versuchen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte sich die Technologie aber stark gewandelt. Das Lichtbild war zu einem alltäglichen Massenphänomen geworden, und breite Bevölkerungskreise konnten Aufnahmen und Abzüge erstehen. Individuelle Aufnahmen wurden in größeren Mengen verschickt. Abzüge wie Fotopostkarten hatten aber natürlich trotzdem einen gewissen Preis. So bat „Kollege Hans“ 1918 darum, dass Grützner das mitgeschickte Bild auch einer weiteren Person zeigt, denn: „Ich würde gern jeden eine [Postkarte] schicken, aber für einen Lanzer [Landser] zu teuer.”
Neue leichte und handliche Kameras ermöglichten es darüber hinaus nun auch einigen Amateurfotograf:innen, Bilder vom Kriegsalltag aufzunehmen. Für Schnappschüsse mit kurzer Belichtungszeit war die Kameratechnik jedoch noch nicht geeignet – sofern sie denn überhaupt angeschafft werden konnte und bereits Erfahrungen mit dem Fotografieren gesammelt worden waren.
Bilder von Normalität im Krieg – Ateliermotive, Sehenswürdigkeiten, Tod
Hans Grützner sammelte in seinem Album vor allem Fotografien, zumeist im Postkartenformat. Neben Karten von Verlagen finden sich vorwiegend individuelle Postkarten mit Porträts. Unzählige Male haben sich die Soldaten im Krieg fotografieren lassen: während der Ausbildung, bevor sie an die Front fuhren, an der Front selbst oder während des Heimaturlaubs. Diese Soldatenbilder bilden den Großteil von Grützners „Kriegs-Erinnerungen“. In professionellen Fotostudios posierten die Soldaten vor gemalten Hintergründen. Besonders gern wurden die Fotografierten vor barock anmutenden Innenräumen, Landschaften oder Blumen positioniert. War kein Atelier vorhanden, konnten die gemalten Rosenbüsche auch in einem Hof aufgehängt werden. Und selbst ohne einen solchen Hintergrund posierten die Soldaten in Uniform für die Fotografen genauso, wie sie es aus Friedenszeiten kannten. Gruppenaufnahmen wurden üblicherweise im Hof der Kaserne oder an den unterschiedlichen Einsatzorten aufgenommen, im Hof von Feldpoststationen, beim Ernteeinsatz, beispielsweise auf Feldern in Flandern, vor Stellungen aus Holz und Beton, die in der Landschaft eingegraben wurden, oder sogar im Schützengraben. Die Bandbreite der Gruppenaufnahmen ist groß: Es gibt beispielweise Fotos, welche die Einheit – meist eine Korporalschaft – in militärisch-hierarchischer Aufstellung um den Unteroffizier zeigen. Entsprechend ist auch die Bezeichnung der Einheit, des Orts und des Aufnahmedatums verzeichnet. Lockerer ging es bei anderen Gruppenbildern zu, bei denen auch mal ein Artilleriegeschütz als Sitzgelegenheit diente. Eine weitere Darstellungsweise (unfreiwilliger) Kollektivität ist die Ablichtung der Soldaten auf dem „Donnerbalken“, gemeinsam über einer offenen Latrine sitzend. Die Gruppenbilder wurden gern mit humoristischen Elementen und Sprüchen, geschrieben auf Schilder oder ausreichend großen (Kriegs-)Geräten, aufgelockert. Nie fehlte die obligatorische Zigarette. Die Porträts sollten nicht den Kriegsalltag dokumentieren; vielmehr stand für die Abgebildeten die Gemeinschaft mit den Kameraden im Vordergrund.
Familie und Freunden dienten die Porträts der Erinnerung an die Soldaten im Feld, aber sie waren auch für Freunde, Kollegen und Verwandte gedacht, die in anderen Einheiten dienten. Die Möglichkeit, Bilder zu verschicken, unterstützte die Aufrechterhaltung einer Verbindung untereinander, und sie erlaubte es den Briefschreibern, auf einer weiteren Ebene zu kommunizieren als nur auf der schriftlichen. Die Texte thematisieren die Fotos jedoch nur selten. Manchmal wurden Veränderungen an der Uniform beschrieben oder die Qualität der Aufnahme bewertet, ab und an das eigene Aussehen ironisch kommentiert, wie von Hans Grützner: „Anbei eine Aufnahme von unserer Korp[oral].Schaft. So eine richtige Gruppe Hampelmänner. Wa? Der eine, der so lacht, bei dem fehlt blos noch der Bindfaden zum ziehen, dann ist der richtige Schrappe fertig.” (24. Juli 18)
Die Soldaten verschickten nicht nur Bilder von sich selbst. Auch klassische Bildpostkarten mit den örtlichen Sehenswürdigkeiten wurden versendet. „Freund Paul” Krönert schickte allein 13 Ansichten der nordfranzösischen Stadt Laon. In der von deutschen Truppen besetzten Stadt war er spätestens ab August 1915 stationiert. Die ersten erhaltenen Postkarten, noch mit französischen Beschriftungen versehen, zeigen zum Beispiel die Neigung des „La Tour penchée”. Krönert hat auf dieser Karte noch eigenhändig den Verweis „Feldpost-Karte!” angebracht. Bereits im selben Jahr konnte er auf Postkarten zurückgreifen, die einen entsprechenden Aufdruck und Felder für die Einheit des Absenders besaßen. Diese Postkarten sind zum Teil von Verlagen in Deutschland gedruckt worden. Vor den Sehenswürdigkeiten der Stadt, wie der weltbekannten Kathedrale, wurden häufig deutsche Soldaten in Uniform abgebildet. Die Gebäude sind auf Deutsch benannt, neben dem Theater steht nun nicht mehr das französische ‚Hôtel de ville‘, sondern die deutsche ‚Kommandantur‘.
Fotos aus der Zeit des Ersten Weltkriegs dokumentierten erstmals umfangreich den Kriegsalltag. Staatliche Stellen und private Verlage produzierten darüber hinaus aber auch patriotische Postkarten und Plakate in bisher unbekanntem Ausmaß. Neben nationalistisch-romantisierenden Motiven – die bereits einige zeitgenössische Beobachter als kitschig einschätzten – gab es zahlreiche oft chauvinistische und nicht selten rassistische Propagandamotive. Sie werden bis heute häufig – zum Beispiel in Schulbüchern – zur Illustration des Ersten Weltkriegs genutzt. Hier wird zum einen Gewalt sprachlich verharmlost durch die Verwendung von Begriffen, die Kampfhandlungen mit Schlägereien oder Züchtigungen gleichsetzen: Tätlichkeiten, die in Gewaltintensität und Ausmaß denkbar weit entfernt von einem Gefecht mit Tausenden Soldaten und unter dem Einsatz schwerer Waffen waren. Zum anderen wurde in dieser Weise die Abwertung anderer Nationen und die Verächtlichmachung des vermeintlich nicht ernstzunehmenden Feindes betrieben. Auf Postkarten gedruckt sollten sie die Einstellungen und Haltungen der Bevölkerung zum Krieg unterstützen und die Soldaten von der Sinnhaftigkeit ihres Einsatzes (und Opfers) überzeugen. Solche Propagandapostkarten wurden schon während des Kriegs gesammelt, heute werden sie im Internet und auf Flohmärken in großen Mengen gehandelt.
In der Sammlung von Hans Grützner finden sich kaum Bilder, die sich als patriotische oder nationalistische Propaganda einordnen lassen. Die Darstellungen auf den Karten weisen zwar eindeutige Attribute des Soldatischen und des Kampfes auf, sind aber keine Beispiele für herabwürdigende oder zynische Überzeichnungen des Krieges oder des Gegners, wie sie sich sonst auf vielen Postkarten finden. Auf einer Karte blickt ein Soldat mit Pickelhaube aus einem Unterstand auf ein Schlachtfeld beim polnischen Vorwerk Promnik: Während es zwischen den Stacheldrahtverhauen vor dem Unterstand ruhig ist, sind im Hintergrund Luftkämpfe angedeutet. Vereinzelt finden sich auch Darstellungen von zerstörten Gebäuden, wie von der eroberten Brücke über die Morawa bei Karljevo in Serbien. Solche Zerstörungsbilder dienten der Demonstration der Schlagkraft der eigenen Waffen. Dass sich unter Grützners Karten keine nationalistisch-chauvinistischen oder rassistische Propagandakarten finden, liegt sicher auch daran, dass diese bereits Anfang 1915 aus den Geschäften verschwunden waren.
Trotz der bisher ungekannten Menge von Bildern aus dem Ersten Weltkrieg gibt es nur wenige Aufnahmen von Kampfhandlungen oder von Schützengräben. Bildreportagen zeigen Schlachtfelder, Festungsanlagen oder die eroberten Städte meist nach einer (erfolgreichen) Schlacht. Darstellungen von Kriegsgräueln hatten aber über den Krieg hinaus Skandalpotenzial, wie sich 1923 zeigen sollte, als das Gemälde ‚Schützengraben‘ von Otto Dix im Kölner Wallraf-Richartz-Museum ausgestellt wurde. Weitere zehn Jahre später wurde es als ‚Entartete Kunst‘ im Lichthof des Dresdner Rathauses gezeigt.
Obwohl Hans Grützner in der Etappe hinter der Front eingesetzt war, gehörten die Grausamkeiten des Krieges und das millionenfache Sterben auch zu den „Kriegserinnerungen“. Einerseits mittelbar, als Foto eines Soldatengrabs: Die Karte mit dem Birkenkreuz hat ihm „Freund Willy“ „zum ehrenden Gedenken unseren lieben Ringerbruders Walter Töpfers” von der Front vor Dünaburg (lettisch: Daugavpils) geschickt. Unmittelbar sind Gewalt und Tod auf dem Foto eines Hingerichteten zu sehen. Der Unbekannte wurde mit einem Würgegalgen getötet. Bei der Exekution von Zivilisten, denen oft Spionage im Dienst von Russland vorgeworfen wurde, gab es während des Ersten Weltkriegs kein offizielles Fotografieverbot.
Solche Tötungen blieben auch im Kontext des Krieges in jedem Fall außeralltägliche Ereignisse. Das gilt ebenso für die räumliche Erfahrung: Die Soldaten wurden zum Teil mehrfach zwischen den großen Fronten des europäischen Kriegsgeschehens verlegt und damit an Orte, die sie andernfalls wohl nie aufgesucht hätten. Der Krieg als ‚Reise‘ mag als Abenteuer oder als Alteritätserfahrung sinnhaft gedeutet worden sein – doch erforderte diese Mobilität unter besonderen Bedingungen auch enorme Anpassungsleistungen. Im Verhältnis dazu lassen sich Bilder einordnen, die für die ‚Heimatfront‘ stehen. Nur drei solcher Abbildungen in Grützners Sammlung weisen einen direkten Bezug zum Krieg auf. Sowohl bei dem Bild vom Schauturnen im Hof einer Schule in Chemnitz Hilbersdorf am 22.8.1915 (bei dem Grützner noch teilgenommen haben könnte) und bei dem Familienbild von „College Paul Henneberg” ist das Aufnahmejahr als Kriegsjahr gekennzeichnet. Eine Zeichnung aus dem Album mokiert sich über das Gewicht eines unbekannten, als „Privatier“ bezeichneten Mannes, der sich an „‚fettlosen‘ Tagen“ sehen ließ. Hier wird die schlechte Versorgungslage im Kriegsalltag greifbar, die mit ihren Rationierungen auch weit entfernt von der Front zu Konflikten führte.
Das Album diente Hans Grützner nur bedingt zur Dokumentation seiner Kriegsteilnahme. Er sammelte vor allem Bildpostkarten von Freunden und Kollegen im Kriegseinsatz. Dabei handelt es sich überwiegend um Fotografien seiner Korrespondenzpartner, die sie selbst verschickt hatten. Die Zusammenstellung der Bilder in Grützners Kriegserinnerungen ist nicht ungewöhnlich; sie unterscheidet sich wenig von den vielen anderen soldatischen Erinnerungsalben der Zeit, die mittlerweile verstärkt in den Fokus der Forschung gerückt sind. Sie zeigen nicht vorrangig die wohl zuerst mit Krieg assoziierten Phänomene, also Kampf, Zerstörung, Versehrung oder Tod. Zwar bilden diese schrecklichen Ereignisse zwangsläufig den Referenzrahmen, doch die gesammelten Fotografien dienen der Dokumentation einer Art von Alltag; die Sammlung unterstützt die Stiftung von Gemeinschaft und Gruppenidentität. In der Auseinandersetzung mit einer solchen (Foto-)Sammlung werden Selbstvergewisserung und Normalität – oder besser der Versuch ihrer Aufrechterhaltung – in einer Ausnahmesituation, wie sie Krieg bedeutet, nachvollziehbar.
Literatur:
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Aibe-Marlene Gerdes, Ein Abbild der gewaltigen Ereignisse. Die Kriegssammlungen zum Ersten Weltkrieg (Zeit der Weltkriege, Bd. 4), Essen 2016.
Konstantin Hermann/Matthias Rogg (Hg.), Sachsen im Ersten Weltkrieg. Politik und Gesellschaft eines deutschen Mittelstaates 1914 bis 1918 (Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte 43), Stuttgart 2018.
Bernd Hüppauf, Fotografie im Krieg, Paderborn 2015.
Gottfried Korff (Hg.), KriegsVolksKunde. Zur Erfahrungsbindung durch Symbolbildung (Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts für Empirische Kulturwissenschaft, Bd. 98), Tübingen 2005.
Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014.
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Adolf Spamer, Der Krieg, unser Archiv und unsere Freunde. Ein Aufruf des Volkskundearchivs des Bayerischen Vereins für Volkskunst und Volkskunde in München, in: Bayerische Hefte für Volkskunde 2 (1915), S. 1-72.