Projekt: "Künstlersteinzeichungen"
Farbige Originallithografien als Wandschmuck für Haus und Schule um 1900
von Winfried Müller
Bei den „Künstlersteinzeichnungen“ handelt es sich um eine von der Forschung bislang kaum beachtete Variante aus der breiten Palette des Bildwandschmucks um 1900.
Die geringe Aufmerksamkeit ist darauf zurückzuführen, dass dieses Genre an der Schnittstelle von Kunstgeschichte und populärer Kultur angesiedelt ist. Für die Kunstgeschichte sind die Künstlersteinzeichnungen ‚nur‘ Drucke, deren zum Teil beachtliche Auflagenhöhe sie in die Nähe von Phänomenen der Massenkultur rückt. Zugleich entzogen sich die Künstlersteinzeichnungen bislang aber auch weitgehend dem Interesse der Volkskunde/Kulturanthropologie, die sich vorzugsweise den Bilderfabriken des 19. und 20. Jahrhunderts und ihrer trivialen, auf den Massengeschmack berechneten Wandschmuckproduktion zuwandte. Von dieser Produktpalette mit ihren chromolithografierten oder später im Offsetdruck hergestellten röhrenden Hirschen, Schutzengeln und Elfenreigen grenzten sich die Künstlersteinzeichnungen bewusst ab und setzten auf eine künstlerisch anspruchsvolle, gleichwohl vermittelbare, weil auf realistischer Darstellung und Gegenständlichkeit beruhende Ästhetik. Zugleich handelte es sich bei den Künstlersteinzeichnungen um eine ‚farbenfrohe Kunst‘ und nicht um Schwarzweißgrafik. Man ging also bewusst auf Distanz zur „strenge[n] Mode des Farblosen“ (Wolfgang Brückner), die bis dahin den Bildwandschmuck im bildungsbürgerlichen Haushalt geprägt hatte. [Abb. 1]
Damit hoben sich die Künstlersteinzeichnungen auch von den hochwertigen Reproduktionsdrucken ab, über die die Bestände der großen Gemäldegalerien in Mappenwerken oder als relativ teure Einzelblätter ihren Weg in die Wohnstuben des gebildeten Bürgertums fanden. Nicht die Reproduktion bereits musealisierter und kanonisierter Kunst, sondern eigens für den Zweck des Wandschmucks gestaltete Grafiken waren die Zielvorgabe, deren drucktechnische Herstellung von den Künstlern und den erstaunlich zahlreich am Genre beteiligten Künstlerinnen überwacht wurde. Kurzum: es wurde in der Regel signierte, in jedem Fall aber unter dem Namen des Künstlers oder der Künstlerin veröffentlichte Originalgrafik produziert – eben die Künstler- oder Originalsteinzeichnung. Der Begriff der Steinzeichnung verweist dabei auf die Herstellungstechnik der Lithografie, suggeriert zugleich aber auch eine handwerkliche Einfachheit, wie sie noch bei den in kleiner Auflage erschienenen Handpressendrucken des 1896 gegründeten Karlsruher Künstlerbundes gegeben war. Karlsruhe war gewissermaßen der „Vorort Deutschlands [...] auf dem Gebiet des Farbensteindrucks“ (Bruno W. Singer) und der Künstlerbund verfolgte kein geringeres Ziel als die ästhetische Durchdringung des Alltags –
benötigte hierfür allerdings auch finanzkräftige Partner mit einem ausdifferenzierten Marketing- und Vertriebssystem. Vor diesem Hintergrund kam es zu einem Joint Venture zwischen dem Karlsruher Künstlerbund und den großen Leipziger Verlagen R. Voigtländer und B. G. Teubner, für die das Flachdruckverfahren der Lithografie insofern interessant war, als es hohe, dann allerdings auf der Schnellpresse gedruckte Auflagen von mehreren Tausend Exemplaren pro Blatt ermöglichte. Das machte die Bilder einerseits für weite Bevölkerungskreise erschwinglich und andererseits für die Verlage kommerziell interessant. [Abb. 2]
Die entscheidende Weichenstellung für diese Kooperation und damit für die Popularisierung farbiger Originallithografien erfolgte 1901 auf dem Dresdner Kunsterziehungstag. Nun zogen die beiden Leipziger Verlage unter Ausnutzung der Karlsruher Ressourcen die Marktführung auf dem Gebiet der Künstlersteinzeichnungen an sich. Im Sinne einer erfolgreichen Vermarktung publizierten sie fortan regelmäßig Verkaufskataloge und boten zugleich ein breites, auch auf vornehme Wohnräume abgestimmtes Sortiment an Rahmen an. Denn wie Ölgemälde sollten die Künstlersteinzeichnungen massiv gerahmt werden und in der bürgerlichen Wohnung einen Gegenpol zur Unrast der modernen Berufs- und Alltagswelt bilden. Dass die heute vielfach als konventionell empfundenen Blätter sich dabei seinerzeit an ein gegenüber der gemäßigten Moderne aufgeschlossenes Publikum wandten, geht aus Publikationen des Deutschen Werkbunds ebenso hervor wie aus einem Prospekt des Verlages R. Voigtländer, der Künstlersteinzeichnungen in Kombination mit Möbeln der Dresdner Werkstätten zeigt. [Abb. 3]
Die Künstlersteinzeichnungen sollten freilich nicht nur in Wohnungen hängen, sondern auch in Amtsstuben, Krankenhäusern und gehobenen Restaurants, vor allem aber auch in Schulen. Sich dort dezidiert von der Schulwandtafel mit ihrer vordergründigen didaktischen Absicht abhebend, sollten sie als ‚stille Erzieher‘ wirken, ästhetisches Empfindungsvermögen fördern, mit stimmungsvollen Darstellungen Geist und Gemüt bilden. [Abb. 4] Damit ist bereits etwas zur Motivik der Künstlersteinzeichnungen gesagt: Vorzugsweise handelt es sich um Landschaftsdarstellungen, hier wiederum fast ausschließlich um deutsche Landschaften. Denn neben der ästhetischen Wirkungsabsicht sollten die Künstlersteinzeichnungen auch zur Heimatliebe erziehen, ja sie wollten eine genuin deutsche Kunst sein und wurden deshalb teilweise ausdrücklich als „Deutsche Künstlersteinzeichnung“ bezeichnet und beworben. Zu dieser Kunstideologie gehörten Gemütsbildung und Erziehung zur Innerlichkeit; leichtlebiger Humor, gar Ironie sind der Künstlersteinzeichnung fremd. Sofern sie Menschen abbildet, handelt es sich um Grübler und vor sich hin sinnierende Wanderer. Sofern die abgebildeten Menschen arbeiten, sind sie als pflügende Bauern, Schäfer oder Nachtwächter tätig. Das moderne Berufsleben bleibt ebenso ausgeblendet wie die Großstadt und die moderne Technik. [Abb. 5] Bevorzugte Motive sind vielmehr die Altstadtviertel mit ihren Fachwerkhäusern, stillen Winkeln und krummen Gassen, und in der kleinstädtisch und agrarisch geprägten Welt der Künstlersteinzeichnung ist die Postkutsche das am häufigsten gezeigte Fortbewegungsmittel. Kurzum: Dargestellt wird die Welt von gestern, und motivgeschichtlich ordnen sich die Künstlersteinzeichnungen damit in die Heimatschutzbewegung und Heimatkunst um 1900 ein. In grafischer Hinsicht sind sie dabei in ihren besten Blättern durchaus anspruchsvoll. Teils sind impressionistische Einflüsse erkennbar, in vielen Fällen verweisen die klaren Konturen und großen Farbflächen auf Jugendstil und Japonismus, bisweilen, etwa bei Gustav Kampmann, kündigt sich zaghaft die Moderne an.
Der Künstlersteinzeichnung wuchs vor allem im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg eine enorme Breitenwirkung zu. Weitere Verlage wie Fischer und Franke (Düsseldorf/Berlin), der Deutsche Verlag (Berlin), Merfeld & Donner (Leipzig), Breitkopf & Härtel (Leipzig), Hubert Köhler (München), Emil Hochdanz (Stuttgart) und die Gesellschaft für vervielfältigende Kunst (Wien) beteiligten sich deshalb an Herstellung und Vertrieb farbiger Originallithografien. Zugleich suchten die traditionellen Lehrmittelverlage wie C. C. Meinhold & Söhne in Dresden oder Wachsmuth in Leipzig bei der Produktion von Schulwandbildern Anschluss an das Genre der Künstlersteinzeichnung. Und nicht zuletzt erschienen unter diesem Label neben den Einzelblättern auch Mappenwerke und originalgrafische Postkarten. [Abb. 6]
Mit dem Ersten Weltkrieg endete dieser Boom. Die reformpädagogische Idee einer Veredelung von Heim und Publikumsgeschmack durch Originalgrafiken hatte sich als Illusion erwiesen, Motivik und Stilistik der Künstlersteinzeichnungen galten nach dem künstlerischen Aufbruch in die Moderne seit den 1920er Jahren als überholt. Gleichwohl blieben die vor dem Krieg hergestellten Blätter weiterhin im Verlagsangebot, es kam auch zu Nachauflagen, neue Blätter kamen indes nur noch vereinzelt hinzu. Noch in Kunsthandlungskatalogen der 1930er und 1940er Jahre tauchen Künstlersteinzeichnungen auf. Nach 1945 verschwanden diese allerdings definitiv vom Markt: Zum einen waren die Lager der großen Leipziger Verlage ausgebrannt und die Produktionsstätten mit den Originalplatten vielfach zerstört. Vor allem aber waren die pflügenden Bauern und andere Motive von der verlogenen nationalsozialistischen Agrarromantik instrumentalisiert worden und somit ideologisch kontaminiert und diskreditiert. Die von den Künstlersteinzeichnungen beschworenen alten Gassen und stillen Winkel waren vielfach zerstört. Die ausgebrannten Ruinen wurden im Zuge der Trümmerberäumung rasch beseitigt, und beim Neuaufbau suchte man den Anschluss an die klassische Moderne. Die Künstlersteinzeichnungen gehörten damit endgültig der vor den beiden Weltkriegen liegenden Welt von gestern an, deren Entschwinden eine ihrer Entstehungsvoraussetzungen gewesen war.
Bei der im Digitalen Bildarchiv präsentierten Bildauswahl handelt es sich um einen von Jörg Hennersdorf fotografierten kleinen Ausschnitt aus der Privatsammlung von Winfried Müller, die im Rahmen eines Langzeitprojekts des ISGV dokumentiert wurde. Das Projekt wurde mit einer Monografie abgeschlossen.
Literatur:
Wolfgang Brückner, Elfenreigen – Hochzeitstraum. Die Öldruckfabrikation 1880–1940, Köln 1974.
Hans W. Singer, Die moderne Graphik. Eine Darstellung für deren Freunde und Sammler, Leipzig ³1922.